In der Debatte um einen „klimaangepassten Waldumbau“ als Reaktion auf die aktuelle Waldschadenssituation in Deutschland wird von fast allen Akteuren eine Reduktion des Bestandes wiederkäuender Huftierarten gefordert. Die Doktrin „Wald vor Wild“ wird bemerkenswerter Weise unabhängig davon formuliert, ob die Akteure Klimaschutzziele verfolgen oder ökonomische Ziele. Die sich dahinter verbergende Wahrnehmung reduziert unsere einheimischen wildlebenden Huftiere auf Waldschädlinge, die bekämpft werden sollen.
WILD UND WALD
Positionspapier zum Umbau der Wälder
unter Berücksichtigung ihrer Funktion als Lebensraum unserer Wildtiere
Die Deutsche Wildtier Stiftung ist besorgt, dass bei dem notwendigen Waldumbau so-wohl das Augenmaß im Umgang mit unseren wildlebenden Huftieren als auch Aspekte des Tierschutzes außer Acht gelassen werden. Die Deutsche Wildtier Stiftung fordert deshalb:
1. Der Einfluss von Huftieren auf die Waldvegetation muss fair beurteilt werden!
Es ist unumstritten, dass sich die Hauptbaumarten des Oberstandes sowie die regelmäßig vorkommenden Pionierbaumarten natürlich verjüngen können müssen. Gleichzeitig ist unumstritten, dass nicht jede verbissene, geschälte oder verfegte Jungpflanze einen wirtschaftlichen Schaden darstellt. Deutlich weniger als 1 % der Jungpflanzen eines sich natürlich verjüngenden Bestandes wachsen in die Altersklasse ein – der Rest unterliegt im ungenutzten Wald der kompensatorischen Sterblichkeit. Für einen naturnahen Wald mit einer hohen CO2-Speicherkapazität sind weder schnurgerade Schäfte noch ein Baumartenportfolio von einem Dutzend Baumarten typisch oder nötig. Die Klimafunktion unseres Waldes wird somit nur in extremen Ausnahmefällen durch die Fraßeinwirkungen des Wildes beeinträchtigt. Verbiss- oder Verjüngungsinventuren können folgerichtig ausschließlich Aussagen über forstwirtschaftliche Aspekte von Wildverbiss treffen, nicht jedoch über ökologische Aspekte oder die Funktion von Wäldern bei der CO2-Bindung.
Vor allem künstlich eingebrachte Baumschulpflanzen von Nebenbaumarten, die nur in geringen Anteilen oder gar nicht im Oberstand vorhanden sind, üben naturgemäß eine große Anziehungskraft auf Wildwiederkäuer aus. Selbst bei extrem abgesenkten Wilddichten ist es un-realistisch, dass sich solche neu eingebrachten Baumarten ohne mechanische Schutzmaßnahmen etablieren. Dies anzuerkennen gehört zu einem fairen Umgang mit unseren wild lebenden großen Pflanzenfressern.
2. Jagd ist nur als ein Teil vom Wildtiermanagement zu verstehen!
Trotz extrem angestiegener Jagdstrecken in den vergangenen vier Jahrzehnten hat sich die Diskussion um den Einfluss der wild lebenden Wiederkäuer auf die Waldvegetation eher verschärft. Diese Tatsache widerlegt die Annahme, dass eine weitere Liberalisierung der Jagdmethoden, wie z.B. eine Lockerung des bestehenden Nachtjagdverbotes, und die damit erhoffte Intensivierung der Jagd die Fraßeinwirkungen des Wildes reduzieren würde. Zu einem modernen Wildtiermanagement gehören vielmehr auch Instrumente wie Wildruhezonen oder deutlich verkürzte Jagdzeiten, um das Wild nicht permanent an die Einstände zu binden und damit überhaupt erst bejagbar zu machen.
Um dort, wo es nötig ist, die Populationen wild lebender Wiederkäuer tierschutzgerecht zu reduzieren, braucht es keine gesetzlichen Änderungen! Es benötigt aber den Willen der handelnden Akteure vor Ort und die Bereitschaft, moderne Jagdstrategien wie z.B. eine versierte Rotwildjagd im Spätsommer auf Kahlwild anzuwenden.
3. Ökosystemleistungen wild lebender Huftiere müssen anerkannt werden!
Artenvielfalt im Wald ist nicht auf die wenigen, wirtschaftlich interessanten Baumarten beschränkt. Wild lebende Huftiere spielen eine wichtige Rolle für die Biologische Vielfalt im Wald. Denn aus ökologischer Sicht verursachen Huftiere keine Schäden, sondern Störungen, die sehr häufig Ausgangspunkt für besonderen Artenreichtum sind. Ein wichtiger Bestandteil ökosystemarer Prozesse ist z.B. die Zersetzung von tierischen Abfallprodukten – also von Aas und Kot. Huftiere übernehmen zudem die Verbreitung von Samen in Fell und Kot. Und ganz nebenbei sind Reh, Rothirsch & Co. der wichtigste Erfolgsfaktor für die Rückkehr großer Raubsäuger wie Wolf und Luchs.
Selbstverständlich können die Lebensäußerungen der wild lebenden Huftiere in unserer intensiv genutzten Kulturlandschaft nicht überall im gleichen Umfang toleriert werden. Gleichzeitig ist aber anzuerkennen, dass Huftiere im Ökosystem Wald genau wie Schwarzspecht oder Wolf eine ökologische Funktion erfüllen.
4. Der Waldumbau ist als Chance zur Lebensraumverbesserung zu begreifen!
Gerade mit Blick auf die Biologische Vielfalt sind Wälder deutlich mehr als die Summe ihrer Bäume. Wälder können Lebensraum für unzählige Kräuter-, Gräser- und vor allem Insektenarten sein. Wälder werden umso artenreicher, je mehr offene, lichtdurchflutete Stellen vorhanden sind. Mit Pionierbaumarten bzw. Weichhölzern bewachsene Waldinnenränder wie z.B. aufgehauene Waldwege sind ein Hotspot der Insektenvielfalt im Wald. Waldwiesen beherbergen eine Vielzahl seltener oder vom Aussterben bedrohter Pflanzenarten, die auf landwirtschaftlich genutztem Grünland längst verschwunden sind. Wenn diese Strukturen von den großen Pflanzenfressern störungsfrei genutzt werden können – das heißt vor allem, dass sie dort nicht bejagt werden – tragen sie auch zur Entlastung der Baumvegetation vor Wildverbiss bei.
Die aktuelle Waldschadenssituation sollte vor allem in den monotonen Nadelwäldern dazu genutzt werden, zukünftig mindestens 1 % der Waldflächen offen zu halten, um so Strukturreichtum und damit gleichzeitig alternative Äsungsangebote für das Wild zu schaffen.
5. Huftiere sind als ein wichtiges Element für die Erholungsfunktion von Wäldern anzuerkennen!
Der Wald und die in ihm lebenden Wildtiere spielen eine bedeutende Rolle in der Kulturgeschichte Deutschlands. Während heute die Naturentfremdung der Bevölkerung immer weiter voran schreitet, steigt gleichzeitig die Nachfrage nach Naturerlebnissen. Zweifellos ist der mögliche Kontakt zu frei lebenden Wildtieren für viele Regionen ein wichtiger Besuchermagnet. Gleichzeitig kann auch in Gebieten mit vergleichsweise großen und für Naturbesucher zuverlässig erlebbaren Populationen wild lebender Huftiere eine für die Erhaltung der Nutz- und Schutzfunktion des Waldes hinreichende Verjüngung aufkommen.
Im Zusammenspiel mit einem klugen Wildtiermanagement sollte die aktuelle Waldschadensstuation insbesondere auf Flächen der öffentlichen Hand dafür genutzt werden, Konzepte zum Wildtiererlebnis für Naturbesucher umzusetzen.
Fazit
Wälder sind auch Lebensraum für unsere großen wildlebenden Huftierarten. Wer meint, den notwenigen Umbau unserer Wälder nutzen zu können, um die Doktrin „Wald vor Wild“ durchzusetzen, handelt verantwortungslos mit Blick auf die Gestaltung des Ökosystems Wald. Der Waldumbau birgt die Chance, waldbauliche Konzepte mit dem Natur- und Artenschutz sowie dem Naturerlebnis zu verknüpfen. Dies wäre auch eine Voraussetzung dafür, den Wiederauf-bau abgestorbener Baumbestände mit öffentlichen Mitteln zu fördern.