Cervus aus den Steppen Asiens
Die unmittelbaren Vorfahren der Gattung Cervus traten erstmals in Südasien auf und entwickelten sich vor etwa 400.000 Jahren in der waldarmen Kältesteppe Mittelasiens. Von dort breiteten sie sich in westlicher und nordwestlicher Richtung aus und besiedelten Europa. In einer zweiten Ausbreitungswelle erreichte Cervus Sibirien und über die Beringstraße sogar Nordamerika. Die Beringstraße war damals eine Landbrücke, entstanden durch mit der Vereisung in großem Umfang gebundenes Wasser.
In der Steppe gibt es eines im Überfluss: Gras. Und so ernährt sich Rotwild vorzugsweise von Gräsern und Kräutern und ist relativ anspruchslos in der Nahrungswahl. Allerdings ist pflanzliche Nahrung – im Vergleich zu Fleisch – schwerer aufschließbar und wesentlich energieärmer. Deshalb haben sich Rothirsche, wie viele andere Pflanzenfresser auch, zu Wiederkäuern entwickelt. Ihr vierteiliger Magen und das mehrmalige Durchkauen des Nahrungsbreies ermöglichen die optimale Ausnutzung der in den Pflanzenzellen gespeicherten Energie.
Zwar frisst der Rothirsch am liebsten Gras. Doch in seinem heutigen Verbreitungsgebiet in Deutschland sieht sein Lebensraum in der Regel anders aus. Und so geht er im Sommer auch mal ans Getreide, im Herbst sind Bucheckern, Eicheln und Wildobst sehr begehrt. Im Spätwinter schält Rotwild die Rinde von nahezu allen Baumarten und beißt junge Knospen von Bäumen und Sträuchern ab, im Frühjahr äst es frisch austreibendes Laub.
Relikte aus geweihloser Zeit: Grandeln
Lange bevor der Mensch die Erde bevölkerte, hatten die Vorfahren unserer Hirsche noch keine Geweihe, um zu drohen. Dafür besaßen jedoch Weibchen wie Männchen lange, scharfe Eckzähne. Mit diesen abwärts gerichteten Oberkiefereckzähnen haben sie früher gegeneinander gekämpft und sich vermutlich schlimme Verletzungen zugefügt. Die langen Hauer haben sich im Laufe der Evolution dezent zurückgebildet. Heute sitzen an der Stelle, wo einst die langen Eckzähne drohte, „nur“ noch vergleichsweise kleine Zähnchen, die sogenannten Grandeln. Die Gegenstücke, die Unterkiefereckzähne sind im Laufe der Jahrtausende nach vorne gewandert und haben die Form und Funktion eines Schneidezahns angenommen.
Eine weitere Erinnerung an die langen Eckzähne sind zwei dunkle Flecken, die die Hirsche unterhalb der Mundwinkel haben. Genau dort, wo einst die hellen Hauer aus dem Mund ragten. Vermutlich dienten sie dazu, die weißen Eckzähne optisch hervorzuheben.
Die Erinnerung an diese Eckzähne und die dazugehörigen Drohgebärden ist schon seit Jahrmillionen im kollektiven Hirsch-Gedächtnis gespeichtert: Beide Geschlechter drohen, indem sie die Oberlippe hochziehen und den Eckzahn präsentieren.
Heute sind diese Grandeln eine begehrte Trophäe bei manchen Jägern. Außerdem werden sie oft in Schmuckstücke eingearbeitet.
Autoren u.a. Doris Hofer und Ulrich Wotschikowsky
Unterarten des Rothirsches (Cervus elaphus)
Der Rothirsch (Cervus elaphus) ist von allen Arten der Familie der Hirsche am weitesten verbreitet. Seine Unterarten leben in Europa ebenso wie in West- und Zentralasien und Nordafrika. In Mitteleuropa kommt die Unterart des Westeuropäischen Rothirsches (Cervus elaphus elaphus) vor. Auch den ostasiatischen Sikahirsch (Cervus nippon), den wir in verschiedenen Zoologischen Gärten und in einigen Regionen Deutschlands (vom Menschen angesiedelt) auch in freier Wildbahn antreffen können, halten heute verschiedene Wissenschaftler für eine Unterart des Rothirsches. In Nordamerika entwickelte sich aus der Familie der Hirsche der Wapiti (Cervus canadensis) als eigenständige Art. Eine seiner Unterarten ist der Maral, der im südlichen Sibirien und Teilen Zentralasiens verbreitet ist. Wapiti und Maral sind deutlich schwerer als der Rothirsch. Rothirsche wurden außerdem in Teilen Südamerikas, in Australien und Neuseeland aus jagdlichen Gründen eingeführt.
Die zahlreichen Unterarten unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht – im Erscheinungsbild, im Verhalten, in der Geweihausbildung und in den Lautäußerungen bei der Brunft. Fast allen anderen Unterarten gegenüber hat der Europäische Rothirsch zwei Merkmale aufzuweisen, die nur ihm eigen sind: Sein Geweih endet normaler Weise in einer Krone, und sein Brunftschrei ist ein dröhnendes Röhren. Allen Unterarten ist gemeinsam, dass sie ursprünglich tagaktive Tiere der offenen und halboffenen Landschaft sind und weite Wanderungen unternehmen.
Forscher haben die Entstehung der Rothirsch-Unterarten in groben Zügen aufgedeckt – sie ist ein Produkt von Gletscher-Vorstößen und -Rückzügen, von Isolation in Refugien, genetischen Flaschenhalseffekten und Hybridisierung.
Verwandte in der Hirsch-Familie (Cervidae)
Auch Rehe (Capreolus capreolus) gehören zur Familie der Hirsche, der Cerviden. Doch Rothirsch und Reh sind nur entfernt miteinander verwandt. Der Irrglaube, das Reh sei die Frau vom Hirsch ist weit verbreitet. Zwar sind beide Arten Wiederkäuer und müssen mehrmals am Tag Nahrung aufnehmen, aber das Reh nimmt als sogenannter „Konzentratselektierer“ vor allem eiweißreiche Pflanzen auf, während Rotwild auch zellulosereiche und nährstoffarme Nahrung wie Baumrinde und Gras verdauen kann. Rehe sind bedeutend kleiner als Hirsche – 20 kg ist schon ein gutes Gewicht. Ein Hirsch wiegt durchaus zehnmal so viel. Rehe sind in Deutschland flächendeckend verbreitet. Im Gegensatz zum Rothirsch leben sie die meiste Zeit des Jahres als Einzelgänger während Rotwild gerne in Rudeln zusammen steht. Rehe haben sich mittlerweile unserer Kulturlandschaft angepasst und besonders im Winter sehen wir sie gelegentlich in Gruppen (Sprüngen) auf den abgeernteten Feldern.
Im Nordosten Deutschlands taucht gelegentlich ein weiterer entfernter Verwandter des Hirsches auf, der Elch (Alces alces). Über Pommern oder den Bayerischen Wald gelangen Einzelne Tiere immer wieder zu uns nach Deutschland. Obwohl so groß wie ein Pferd und doppelt so schwer wie ein Hirsch ist der Elch mit dem Reh näher verwandt als mit dem Rothirsch. Beide gehören zur Familie der Trughirsche (Capreolinae), während Rothirsch zu den Echten Hirschen (Cervinae) gehören. Unverwechselbar sind die Elchschaufeln, das Geweih der männlichen Elche. Charakteristisch ist auch die Fortbewegung der Elche, deren Trab (Troll) selbst im unwegsamsten Gelände außerorderntlich elegant wirkt.
Ebenfalls mit dem Rothirsch verwandt ist das Rentier (Rangifer tarandus) (Eurasien) bzw. Karibu (Nordamerika). Es sind die einzigen Hirschartigen, bei denen auch die Weibchen Geweihe tragen. Bekannt sind sie für ihre weiten, regelmäßigen, jahreszeitlichen Wanderungen zu vielen tausend Tieren. Während in Sibirien und Nordamerika Ren bzw. Karibu noch nach ihrem natürlichen Rhythmus leben, sind die Rentierenden, denen man in Skandinavien begegnet, praktisch alle domestiziert, also Nutztiere.
Einige Verwandte unseres Hirsches sind bedrohte Arten, z.B. Muntjak, Axis-, Leier- oder Davidshirsch. Erwähnt sei hier noch das fernöstliche, sehr kleine Moschustier mit seinen langen Eckzähnen, dem wegen einer walnussgroßen Drüse nachgestellt wird. Aus ihr wird der Duftstoff Moschus gewonnen, der nur in die teuersten Parfüms gelangt (billigere verwenden synthetisches Moschus). Moschus ist eines der teuersten Naturprodukte der Welt: über 50.000 US $ pro Kilogramm werden bezahlt. Und um ein Kilogramm Moschus zu gewinnen, müssen ca. 160 Moschustiere erlegt werden. Zwar wird der Handel beschränkt und international kontrolliert, aber das scheint nur bedingt wirksam zu sein.
Autoren u.a. Doris Hofer & Wolfgang Schöder
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